Wenn es keinen anderen Ausweg gibt
Wilhelmshaven - "Entweder du schaffst es nach Griechenland oder du stirbst." Wesam Alnaji wendet seinen Blick ab, als er diesen Satz ausspricht. Sein Vater Walid sitzt daneben, er lauscht den Worten seines Sohnes, atmet schwer. Er weiß, was sein Sohn durchgemacht hat. Er hat selbst erlebt. Es ist kaum vorstellbar, wenn die Familie jetzt von ihrem Leben hier in Wilhelmshaven berichtet. Der älteste Sohn Wesam absolviert eine Ausbildung zum Koch, nebenbei kellnert er. Tochter Sarah hat hier die Schule abgeschlossen und ihre Ausbildung zur Zahnmedizinischen Fachangestellten begonnen. Vater Walid ist stolz auf seine Kinder, alle haben Deutschkurse absolviert und sprechen die Sprache gut.
In der Migrationsberatung der Caritas möchte Familie Alnaji ihre Geschichte erzählen: Vater Walid (v.li.), Tochter Sarah und Wesam sind an diesem Tag gekommen. Jennifer Brodhagen, Migrationsberaterin, hat sie bei allen wichtigen Schritten unterstützt.@Dirk Gabriel-Jürgens
Doch was Familie Alnaji erlebt hat, lässt sich kaum in Worte fassen. Es ist die Geschichte einer Flucht, die zeigt, was Menschen bereit sind auf sich zu nehmen, wenn sie keinen anderen Ausweg sehen. Sohn Wesam Alnaji will sie an diesem Tag in der Migrationsberatung der Caritas erzählen. Hier werden sie seit langem von Migrationsberaterin Jennifer Brodhagen beraten.
Gefährliche Fahrt über das Mittelmeer
Von vorn: Damaskus in Syrien im Jahr 2015. Die Stadt steht unter ständigem Beschuss. Familie Alnaji, bestehend aus Vater Walid, Mutter Manal, dem ältesten Sohn Wesam, Sohn Osamah und Tochter Sarah leben zusammen in einer Siedlung - bis die Zerstörung bei ihnen ankam. "Es war alles kaputt, man kann sich nicht vorstellen unter welcher Angst und welchem Stress wir dort gelebt haben", sagt der älteste Sohn Wesam Alnaji. Immer wieder fliehen sie aus der Wohnung. Manchmal schlafen sie tagelang im Auto.
In der Hoffnung auf ein besseres Leben und um seine Familie so bald wie möglich zu sich zu holen, wagt Vater Walid den ersten Fluchtversuch. Siebenmal wird er vom Grenzschutz aufgegriffen, immer kurz vor Griechenland. Beim achten Mal gelingt die Flucht. Über Griechenland schafft er es nach Deutschland, landet in Wuppertal in einer Flüchtlingsunterkunft - nach drei Monaten Flucht. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Es wird drei Jahre dauern, bis er die gesamte Familie wieder in die Arme schließen kann.
Kurze Zeit später wagt auch Sohn Wesam die Flucht. Von Damaskus geht es nach Aleppo, von dort aus zu Fuß über die Grenze in die Türkei. Hier trifft er auf einen Mann, der den Syrer auf ein Schiff bringt. "Da hätten vielleicht 20 Leute drauf gepasst, es waren aber 90", sagt Wesam. Er hat nur das, was er am Körper trägt. "Du kannst da keinen Koffer mitnehmen."Seine Kleidung ist nass. Sechs Stunden dauert die Überfahrt. Er weiß nicht, welche Angst größer ist. Die vor dem Grenzschutz oder die vor dem Ertrinken, falls das Boot kentern sollte. Die achttägige Flucht kostet Kraft. "Ich war einfach nur am Ende. Hatte
zwei Tage nicht geschlafen."
Der 26-Jährige kommt zunächst nach Österreich, irgendwann nach Deutschland und trifft auf seinen Vater. Zusammen geht es nach Cloppenburg, doch dort finden beide keinen Wohnraum. So kommen sie nach Wilhelmshaven.
Vater und Tochter sind drei Jahre getrennt
"Es war schwer", sagt die 18-jährige Sarah. Sie ist zehn Jahre alt, als ihr Vater und Bruder fliehen. "Die Trennung war schlimm, wir waren auf uns gestellt." Mutter Manal, Sohn Osama und Sarah bleiben zurück. Erst 2018 können sie über den Familiennachzug nach Deutschland geholt werden. Nach drei Jahren. Eine Flucht bleibt Mutter Manal und Sarah erspart. Die Familie kommt in Wilhelmshaven an, doch Osama bleibt lange allein in Damaskus zurück. Mit rechtlichen Mitteln ist es nicht möglich, ihn aus dem Land zu lassen. Er muss die Flucht über das Mittelmeer wagen. "Für Osama war das sehr schwer - für uns alle", sagt Wesam. Denn sein Bruder spricht weder Deutsch noch Englisch, nur Arabisch "Wir wussten nicht immer wo er war, haben manchmal tagelang nichts von ihm gehört", berichtet Wesam. Osama gelingt unter widrigsten Umständen die Flucht. "Die Zeit allein in Damaskus hat ihn traumatisiert, er ist psychisch sehr krank". Bis heute leidet der 24-Jährige unter diesem Trauma. Und noch immer ist Osamas Aufenthaltsstatus unklar, er kann jederzeit abgeschoben werden.
Ein erstes Heimatgefühl
Doch Familie Alnaji blickt nach vorn. Sie wollen nicht aufgeben, nicht nach allem, was sie durchgemacht haben. Über acht Jahre ist die Flucht jetzt her. Und noch immer sind sie im Prozess des Ankommens. Der 26-jährige Wesamfühlt sich in Wilhelmshaven wohl. "Ich kenne hier viele Leute und versuche so wenig wie möglich auf Arabisch zu sprechen." Eine Rückkehr in seine Heimat komme für ihn nicht mehr infrage. Schwester Sarah, die in sehr jungen Jahren nach Deutschland gekommen ist, hat damit weitaus mehr hwierigkeiten als ihr Buder. "Ich vermisse meine Heimat sehr und habe noch nicht so viele Freunde gefunden."
Ihr falle es schwer, die Stadt als neue Heimat zu akzeptieren, auch wenn sie weiß, dass sie hier sicher ist. Doch eins steht für alle fest. Sie wären nicht gekommen, wenn es keinen anderen Ausweg gegeben hätte.
"Wir sind hier nicht hergekommen, um Urlaub zu machen. Sondern, weil in unserem Land Krieg herrscht", sagt Wesam Alnaji deutlich und blickt zu seinem Vater. Er nickt stumm.
Migrationsberatung der Caritas
Die Beratung ist das vom Bund geförderte Grundberatungsangebot in Deutschland für Eingewanderte und Menschen mit Migrationshintergrund ab 27 Jahre.
Ziel der MBE ist, die Teilhabechancen Ratsuchender in rechtlicher, sozialer, ökonomischer, politischer und kultureller Hinsicht zu verbessern, aber auch durch strukturelle Arbeit im Sozialraum zum Gelingen von Integrationsprozessen beizutragen.
Das Angebot ist für Ratsuchende kostenlos und wird von den Trägern der Freien Wohlfahrtspflege sowie dem Bund der Vertriebenen an bundesweit insgesamt etwa 800 Standorten vorgehalten.
Quelle: Wilhelmshavener Zeitung von Kea Ulfers vom 21. September 2023